In den Tagen auf dem Stuttgarter Flamenco Festival fühlte ich mich wie der Fisch im Wasser. Nirgends scheine ich so dazuzugehören, werde ich so wahrgenommen, wie bei einem Flamenco-Kurs.
Nach der hinreißenden Vorstellung „Vengo Jondo“ von Marco Flores am letzten Abend, unterhielt ich mich auf der Terrasse vor dem Restaurant mit dem Gitarristen Frank Ihle und der Sängerin Carmen Fernández, die ich beide von meinen aktiveren Zeiten her kenne. Carmen hatte zuvor in meinem zweiten Kurs bei Olga Pericet gesungen und schon allein ihre Stimme versetzte mich in eine andere Welt.
Nachdem ich mich verabschiedet habe, sehe ich Olga Pericet gute zehn Meter entfernt stehen. Sie schaut zu mir herüber und ich winke ihr zum Abschied. Da wirft sie die Arme gestreckt in die Höhe, läuft auf mich zu, umarmt mich und sagt mir, dass es ihr eine Freude war mit mir zu arbeiten. Völlig überrascht stammle ich in meinem rudimentären Spanisch: „Pa mí también“ und lege meine Hand auf’s Herz. „Estás muy abierto“ sagt sie und nickt ernst. „Du bist sehr offen.“
Ich verstehe ihr Spanisch sehr viel besser, als es mir gelingt die passenden Worte aus den Windungen meines Gehirnes hervorzukramen und versteige mich zu der Aussage: „Te quiero mucho.“ Sofort kommen mir Zweifel, ob man das in diesem Zusammenhang überhaupt so sagt. Also genauso wie ich vor dem Kurs über Carmen Fernández sagte: „Ich kenne sie schon ewig und ich liebe sie sehr.“
Doch Olga Pericet antwortet: „Yo también“ und ich glaube wir verstehen uns schon richtig, denn in ihrem Unterricht hatten wir viel Blickkontakt. Bestimmt bin ich keine besonders gute Tänzerin und müsste länger üben, um meine Füße auf das in der Soleá por Bulería geforderte Tempo zu bringen. Was ich aber gut kann, ist Bewegungen nachmachen, die man mir vormacht. Darin gehe ich ganz auf und das freut jeden Lehrer.
Vielleicht war die Aussage ein wenig peinlich, aber ich bin mir ganz sicher, dass ich diese so sinnliche wie kraftvolle, strahlend leuchtende Tänzerin und ganz bezaubernde Person liebe. Obwohl ich sie nur bei ihrem Auftritt in „La Leona“ – ganz nah aus der dritten Reihe – und während der knapp acht Stunden in den Kursen erlebt habe. Olga Pericet hat uns gezeigt wer sie ist.
Mich zu erkennen scheint dagegen sehr viel schwieriger zu sein. Auf der Heimfahrt von Stuttgart passiert es mir wieder, dass ich völlig falsch eingeschätzt werde. Nachdem ich meinen kleinen Rollkoffer im Regen durch den deswegen erfreulich leeren Schlosspark gezogen habe, gerate ich in einen besonderen Waggon des ICE, mit Personalräumen, einem Séparée und Rollstuhlplätzen. Nach kurzem Zögern setze ich mich gleich auf den ersten Einzelplatz mit Tisch, vor einen der Rollstuhlplätze, auf dem ich meinen Koffer parke. Sollte tatsächlich jemand mit einem Rollstuhl und Begleitung kommen, könnte ich immer noch wechseln.
Es ist der perfekte Platz: In Fahrtrichtung, ich kann die Beine strecken und bequem über den Tisch in meinen kleinen Rucksack greifen, der auf dem Koffer steht.
Das hat sich wohl auch der große Mann gedacht, der sich nun mit einem viel größeren Koffer in die Zweiersitzbank schräg gegenüber zwängt, ein großes Laptop auf seinem Klapptischchen öffnet und mich böse anschaut.
„Sitze ich auf ihrem Platz?“ frage ich nach kurzem Zögern.
„Können Sie Gedanken lesen?“ fragt er zurück.
„Nein, ich habe ja ihr Gesicht gesehen.“
„Aber warum fragen sie?“
„Ich bin eben aufmerksam und wäre auch bereit den Platz zu räumen. Es ist ja doch unangenehm, wenn man sich so nah gegenüber sitzt.“
Woraufhin der Herr mir erklärt, dass ich seinen Gesichtsausdruck durchaus richtig interpretiert habe, er aber wegen einer Zugverspätung verärgert und jetzt wegen einer Verabredung im Stress ist. Anscheinend habe ich ihn aber ziemlich abgelenkt, von seinem Stress. Nach einem Blick auf mein Gepäck und mein Bein will er wissen, ob ich mit Esoterik zu tun habe.
„Ich glaub an gar nichts“, antworte ich etwas patzig, um versöhnlich hinzuzufügen: „Aber ich weiß schon, dass ich ganz anders wirke als ich bin.“
„Und wie sind Sie dann wirklich?“
Auf eine so direkte Frage bin ich nicht vorbereitet. Weil ich mich mit Esoterik gar nie befasst habe, komme ich nicht auf die einfachste Antwort: Vernünftig und alles nach wissenschaftlichen Erkenntnissen hinterfragend. Stattdessen sage ich etwas hilflos: „mutig, kraftvoll“. Wahrscheinlich sage ich das, weil der Kollege, an meinem ersten Arbeitsplatz als diplomierte Grafikerin, mich Mäuschen nannte und erwartete, dass ich ihm morgens als erstes einen Kaffee koche.
Ich bin klein, schmal, unscheinbar – aber als Olga Pericet uns in der Runde zum Kursbeginn bat unseren Namen, wo wir her kommen und ein Tier zu nennen, da sagte ich „Löwin“. Und das nicht weil ihr Stück „Leona“ heißt, sondern weil ich sie so verstanden habe, dass es nicht um ein Lieblingstier geht, sondern um eines, das zu unserem Charakter passt. Darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht, aber so verkehrt finde ich die Wahl gar nicht. Auch wenn die anderen alle sympathischere Tiere nannten – häufig Pferde und Vögel.
An meinem Wort „mutig“ hakt der fremde Herr im Zug ein. Offenbar versteht er etwas anderes darunter und redet von Draufgängern. Unvernünftig bin ich nicht – oder nur ein bisschen. Mutig finden manche ja schon, dass ich mitten in der Nacht allein durch den unbeleuchteten Rosensteinpark radle – vorbei an den Treffpunkten muslimischer Männer, von denen anzunehmen ist, dass sie ein solches Verhalten von Frauen nicht gerade schätzen. Das erzähle ich ihm aber nicht, er redet selber gerne.
„So wie Sie zieht sich eigentlich niemand mehr an. Seit ich in Deutschland bin, habe ich das jedenfalls nicht gesehen.“
Ich bin überrascht. Zwar bin ich von früher daran gewöhnt, dass Leute finden, ich ziehe mich komisch an. So direkt hat mir das aber noch niemand ins Gesicht gesagt und gerade jetzt meine ich völlig normal gekleidet zu sein. Mein hellapfelgrünes, kastiges Top aus dickem, gewebtem Leinen und die weite, in Grüntönen fein gemusterte Sommerhose passt nicht perfekt zum dunkelbordeauxroten Regenparka, aber wer hat schon zu allem die passende Regenjacke, noch dazu auf Reisen. Ohne die Jacke fand ich mich in den Klamotten gestern schick genug für’s Theater. Ich frage den Mann woher er denn kommt.
„Ami – ich bin Ami“ wiederholt er, weil ich ihn nicht gleich verstehe. Das nette junge Pärchen, das die Sitze vor dem anderen Rollstuhlplatz neben mit belegt hat, unterhält sich deutlich lauter als er spricht, während er sich ständig über seinen langen, vollen Graubart streicht. Ich muss mich weit zu ihm beugen, um ihn überhaupt zu hören.
Dann meint er, ich sehe aus wie die Hippies vor dreißig Jahren. Er hat die damals schon alternden Hippiefrauen vor Augen – nehme ich an. In der Hippie-Ära bin ich grade mal geboren und damit identifizieren würde ich mich nie. Dafür nehme ich meine Arbeit schon immer viel zu wichtig. Nur die Naturverbundenheit und meine konsumkritische Haltung würden halbwegs dazu passen. Deshalb sage ich: „Ich bin die absolute Ökotante, das schon.“
Er schaut wieder auf meine Schuhe, die Catarina Mora bei einer Anprobe von Tanzschuhen so kommentierte: „Wer den ganzen Tag mit Gesundheitslatschen herumläuft, für den sind alle Flamencoschuhe unbequem.“
Zugegeben, die Schuhe sind auffallend breit, vorne geschlossen und mit Fersenriemen – ein Klassiker eines eher teuren österreichischen Herstellers. Ich finde sie praktisch und bequem. Im Theater habe ich aber zierliche Stoffturnschuhe getragen, die ich dann doch schöner finde. Als Festivalleiterin trat Catarina Mora in tollen Kleidern und glänzenden Ultra High Heel Pumps mit waffenscheinpflichtigen Stiletto-Absätzen auf die Bühne. Das sah toll aus – ich würde an ihrer Stelle wahrscheinlich mit Turnschuhen gehen. Dass ich jetzt mit den teuren Schuhen als Althippie eingeordnet werde, wundert mich schon. Sind nicht gerade Birkenstocks salonfähig geworden?
Weil ich das Buch schon in der Hand halte, das ich mir während meines Besuches von meinem Sohn geliehen habe, kommt der Mann auf das Thema Lesen, wofür er sich kaum noch die Zeit nimmt. „Um sein Gehirn abzuschalten, zappt man heutzutage nur noch durchs Fernsehprogramm oder wischt übers Smartphone.“
„Ich nicht, dafür brauche ich kein Gerät. Da reicht das Buch. Auch wenn ich anfangs jeden Satz dreimal lesen muss, bis ich raus bin aus meinen eigenen Gedanken, bringt mir das immer noch mehr.“
Er will wissen, was das für ein Buch ist.
„Egal welches, es geht nicht um dieses.“
„Wenn ich etwas lese, dann ist das eher anstrengend, als geeignet die Gedanken zu beruhigen. Zuletzt war das Saxo Grammaticus, ein mittelalterlicher Mönch aus dem zwölften Jahrhundert. Da geht es fast nur um Mord und Totschlag. Das Mittelalter war ganz anders als wir uns das heute vorstellen.“
Zu sagen, dass ich keine bin, die sich Illusionen bezüglich der Geschichte der Menschheit macht, verkneife ich mir. Geschichte und Archäologie haben mich schon immer interessiert – bis zurück zu den Affen. Das Buch, das ich in der Hand halte, ist aber ein Roman. Bestimmt autobiografisch gefärbt, handelt er von einer Abiturientin aus der Arbeiterschicht im Frankreich unserer Zeit. Das finde ich genauso interessant, wie das, was der Mann anfängt über das Heidentum in Nordeuropa anzudeuten.
Das Mittelalter passt gut zu ihm. Gekleidet ist er wie alle: Bedrucktes T-Shirt, kurze Hose und Sneaker in Schwarz. Aber der Bart fällt auf und seine langen, grauen Haare hat er zu einem mittelalterlich anmutenden Zopf nicht geflochten, sondern mit mehreren dünnen Riemen oder Gummis in gleichmäßigen Abständen zusammengebunden.
Inzwischen ist er beim Thema Religion angelangt. Auch dazu würde mir einiges einfallen. Aber eigentlich müsste er arbeiten und er verliert sich in Andeutungen. Wobei er so leise spricht, dass ich nicht alles verstehe. Nachdem er bei seiner zweiten Exfrau angelangt ist, sagt er: „Das Problem ist, ich rede zu viel.“ Die zweite Exfrau wundert mich nicht. Trotz Rauschebart ist er nicht unattraktiv und ein Mann, mit dem man reden kann. Wenn man es schafft zu Wort zu kommen.
„Ich würde dich jetzt gerne zum Essen einladen und mich länger mit dir unterhalten, aber ich muss leider …“ Er deutet auf sein Laptop.
Und wir lassen es dabei. Ich lese und als ich umsteigen muss, winken wir uns kurz zu. Es gibt schon wirklich interessante Leute und ihm sah man das auch gleich an. Sollte ich mir mehr Gedanken über meine Kleidung machen?
August 2024