Seit 2010 ist der Flamenco immaterielles UNESCO Weltkulturerbe. Nicht wenige Flamenco-Künstler fürchteten damals um ihre künstlerische Freiheit.
Immer wieder gab es Bemühungen festzulegen, wie der Flamenco zu sein hat. So auch in der Anfangszeit der Franco-Diktatur, als man den Flamenco zum Zugpferd für den Massentourismus erkor. Gefördert wurde eine kitschige, knallbunte Rüschenfolklore, inszeniert mit leidenschaftlichen Machos und stolzen Frauen. In den Tablaos kontrollierten die Behörden sogar, ob die Tänzerinnen die vorgeschriebenen, züchtigen Unterhosen trugen.
Das in diesen Flamenco-Lokalen ab 1950 entstandene Klischee prägt noch immer unsere Vorstellung vom Flamenco. Nicht zuletzt, weil es in manchen Touristen-Hochburgen immer wieder bestätigt wird. Die wirklichen Flamenco-Künstler entwickeln sich unterdessen munter am Klischee vorbei, bis hinauf in die Spitze zeitgenössischer Tanzkunst.

„Ist das denn noch Flamenco“, ist eine Frage, die man bei manchen Veranstaltungen hört. Doch die meisten Kenner sind sich inzwischen einig: „Was ein Flamenco-Künstler macht, ist auch Flamenco.“ Denn um wirklich Flamenco-Künstler zu sein, muss man die Tradition verinnerlicht haben. Diese Kunst wächst aus den alten Wurzeln. Deshalb spielt es keine Rolle, wie bunt die Blüten sind, die sie treibt.

Der Flamenco ist von seiner Entstehungsgeschichte geprägt. Die verschiedenen Stile sind durch traditionelle Gesänge definiert, auf die sich auch die heutigen Künstler beziehen. Einige dieser sogenannten „Cantes“ sind weit älter als die „Flamenco“ genannte Musik- und Tanzform, die erst ab etwa 1860 entstand.
Die Fandangos haben ihren Ursprung in einem alten, maurischen Tanz. In die ländliche Folklore aufgenommen, wurde der Fandango zu einem europaweit berühmten Bühnentanz weiterentwickelt. Auch Goethe hat den Fandango begeistert beschrieben. Zu seiner Zeit galt er als Inbegriff des spanischen Tanzes. Den Rang als spanischer Nationaltanz, hat ihm längst die Sevillana abgelaufen.
Die Sevillana hat ihren Ursprung in einem Volkstanz aus der zentralspanischen Mancha, der schon im 16. Jh. dokumentiert ist. In einer Tanzschule in Sevilla wurde daraus im 18. Jh. ein Bühnentanz choreografiert. In dieser Form wird die Sevillana bis heute auf den Festen in Andalusien, aber auch in den Clubs von Madrid oder Barcelona getanzt.
Die Tanzschulen standen in enger Verbindung mit den beliebten Volkstheatern. Dort lehrte man die aktuellen andalusischen Modetänze, die ein wichtiger Bestandteil der Zarzuelas waren – eine Art spanischer Operette.

Erstmals belegt ist der Begriff „Flamenco“ für die Vorführungen von Gitano-Tänzerinnen im Salón de Recreo, einer der bedeutendsten Tanzschulen Sevillas. Die sogenannten „öffentlichen Proben“ dieser Tanzschulen waren auch bei betuchten Reisenden sehr beliebt. Im rückständigen, noch maurisch geprägten Andalusien waren sie auf der Suche nach dem Romantischen. Ihr romantisches Ideal glaubten sie in den Flamencos gefunden zu haben und die reisenden Romantiker lösten eine regelrechte Zigeunermode aus. Das Wort „Zigeuner“ gilt heute als rassistisch. In der deutschsprachigen Literatur über den Flamenco, ist es aber ebenso präsent, wie die Rolle dieses Volkes groß ist.

Als „Flamencos“ wurden damals offiziell die spanischen Gitanos bezeichnet, deren Anwesenheit in Spanien ab 1425 dokumentiert ist. Sie selbst nannten sich damals Calé und sie stammen aus dem Norden Indiens, wo bis heute nomadische Musikerclans mit Kamelen von Fest zu Fest ziehen.
Persische Geschichtsschreiber erzählen die Legende von zehntausend Angehörigen einer Musikerkaste, die der Schah Bahram V. Anfang des 5. Jh. aus Nordindien kommen ließ. In Persien eingetroffen, erhielten die Leute Ochsen, Esel, Saatgut und Land von dem sie leben konnten. Dafür verlangte der Schah lediglich, dass sie an Festtagen kostenlos für seine Untertanen musizieren.
Ausgehungert sprachen die Inder nach Ablauf eines Jahres bei Bahram V. vor. Ihren Auftrag als Musiker hatten sie erfüllt, jedoch Saatgut und Ochsen aufgegessen, anstatt die Felder zu bestellen. Der Schah war darüber sehr verärgert. Er empfahl ihnen, Saiten aus Seide auf ihre Instrumente aufzuziehen und schickte sie in die Welt hinaus. Als Wandermusiker sollten sie sich ihr Auskommen selbst verdienen.

Von Kleinasien aus gelangten die Roma im 11. Jahrhundert nach Griechenland. Daher stammt die heute in Spanien übliche Bezeichnung Gitanos. Über den Balkan verteilten sie sich aber auch in den Libanon, nach Ägypten und bis nach Nordafrika.
Als Berufsmusiker verstanden sie es nicht nur, die populären Volksweisen zu spielen. Sie brachten auch neue Instrumente mit und beeinflussten die Musikkultur ihrer Gastgeberländer.
Man denke an den Swing Manouche des Django Reinhardt im Paris der 1930er Jahre. In Ungarn spielten Romakapellen zu den Rekrutierungstänzen der Husaren auf – daraus entstand der legendäre Csárdás. Selbst Ägyptens berühmte orientalische Tänzerinnen, die Ghawazi, entstammen diesem Volk.
Folgt man den musikalischen Spuren der Roma, dann kann man eine gemeinsame Handschrift erkennen – eine ihnen ganz eigene Vehemenz. Damit haben die Flamencas auch bei den Vorstellungen der Tanzschulen die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich gezogen.
Vieles im Flamenco deutet auf einen Einfluss des Indischen Tanzes hin. Doch der dürfte in Andalusien weit älter sein.
Bereits die Phönizier holten für große Feste Tempeltänzerinnen aus Indien. Auch in ihre um 1100 v. Chr. gegründete Hafenstadt Cádiz. Bei den Römern, den späteren Eroberern Andalusiens, waren die Tänzerinnen aus Cádiz berühmt.

Interessanterweise unterschieden die ersten Flamenco-Tänzerinnen sich auch dadurch von den damals üblichen Bolero-Tänzerinnen, dass sie keine Kastagnetten benutzten. Die Kastagnetten – nach denen man bei Vorstellungen in Deutschland immer gefragt wird – wurden erst viel später in den Flamenco aufgenommen. „Weil das Publikum es so wünscht“, wie Carmen Amaya es begründete. Nämlich als Kompanien mit spanischem Tanz aller Art auf Welttournee gingen.

Zur Begleitung ihrer Tänze führten die Flamencas die Gitarre ein. In der Regel wurden die Tänze für das Volkstheater mit Geige, Laute, Flöte und Trommel begleitet. Außerdem brachten die Gitano-Tänzerinnen ihre Sänger mit – und das war der entscheidende Schritt zur Entwicklung der neuen Musikform, namens Flamenco.

Mit dem Gesang der Gitanos trat der „Cante jondo“, was man mit „tiefinnerem Gesang“ übersetzen kann, ins Licht einer breiten Öffentlichkeit. Bis dahin war der Cante jondo nur in einem ganz speziellen Milieu anzutreffen, das man als andalusische Bohème bezeichnen kann. Vorwiegend in den Gitanovierteln von Sevilla und Jerez, traf sich die rebellische Jugend aus gutem Hause zum Feiern mit Künstlern, Gaunern und Halbwelt.
Der Flamenco ist in einer städtischen Subkultur entstanden und von daher eher mit dem afroamerikanischen Blues und Jazz vergleichbar, als mit einer bayrischen Trachtengruppe.

Mitte des 19. Jahrhunderts traf der Cante jondo den Nerv der Zeit. Spanien war noch traumatisiert vom Einmarsch Napoleons und dem darauf folgenden, grausamen Unabhängigkeitskrieg. Nach dem Angriff Frankreichs, wuchs auch in der damals ganz von französischen Sitten geprägten Oberschicht, das Bedürfnis nach einer spanischen Nationalkultur. Man erinnerte sich der mittelalterlichen Romanzen und der traditionellen Volksmusik. Dabei muss man sich bewusst sein, dass Andalusien mehr als fünfhundert Jahre von der glanzvollen Herrschaft der Mauren geprägt war.
Als die ersten Roma ins Land kamen, war man in Granada noch mit der Vertreibung der Muslime beschäftigt. Die reisenden Berufsmusiker betätigten sich auch als Bänkelsänger und gaben die maurischen Romanzen über Generationen weiter.
Die katholische Kirche bemühte sich unterdessen, die beim Volk beliebten maurischen Tänze zu verbieten. Um die Macht der Kirche zu sichern, wurden religiöse Prozessionen mit Gesängen ins Leben gerufen. Und auch hier taten sich stimmgewaltige Gitanos hervor.
Im Cante jondo vereinten die Gitanos all diese kulturellen Einflüsse und drückten ihm ihren ureigenen, orientalischen Stempel auf.

Anfangs wurde der Cante jondo ohne instrumentale Begleitung gesungen. Erst die Kommerzialisierung der Flamencotänze, ermöglichte den Einsatz der kostspieligen Gitarre. Kein Instrument kann so wild und aufbrausend gespielt werden und entspricht so sehr dem Temperament der Flamencos.
Allerdings ist die Gitarre, mit ihren in Halbtonschritten angeordneten Bünden, nur schwer an die Vierteltöne des orientalischen Gesanges anzupassen. Doch begeistert von der genialen Intuition der Musiker, schrieb Manuel de Falla: „Die Harmonieeffekte, die Flamenco-Gitarristen hervorbringen, gehören zu den Wundern natürlicher Kunst.“
Aus der Verbindung von Abendland und Orient, ist eine neue Kunstform entstanden. Erst ab dem Zusammentreffen von Tanz, Gesang und Gitarre, um das Jahr 1860, wird diese Kunst „Flamenco“ genannt.
„Muss man nicht Spanierin sein, um Flamenco zu tanzen?“ werden wir gefragt. Der Flamenco ist viel mehr ein multikulturelles, als ein spanisches Kulturgut und schon lange genauso weltweit verbreitet wie der Jazz.

(Dieser Text wurde von Andrea gelesen, über die weitere Entwicklung des Flamenco, oder den Compás, habe ich dann bei der Ankündigung der Tänze erzählt. Bei Interesse überlege ich, das Projekt fortzuführen.)